Grenzerfahrung Eau Rouge – die Geheimnisse der weltweit gefährlichsten Kurve

24h Spa-Francorchamps: Im Porsche 911 GT3 R mit Vollgas durch die berühmte Eau Rouge

Porsche-Werkspilot Laurens Vanthoor tritt am Ausgang von La Source, der ersten Kurve auf dem Circuit Spa-Francorchamps, voll aufs Gaspedal. Der über 500 PS starke 911 GT3 R schiebt mit großer Wucht nach vorn, der Geschwindigkeitszuwachs wird durch das Gefälle von rund 15 Prozent erheblich beschleunigt. Mit hohem Tempo geht es durch einen leichten Rechtsbogen. Der Belgier positioniert sein Fahrzeug am rechten Straßenrand möglichst nah an der weißen Mauer, die die alte Boxengasse von der Strecke abgrenzt und den Klang des hochdrehenden Sechszylinder-Boxer zurückwirft. Etwas weiter unten liegt sie dann: die berühmte Eau Rouge von Spa-Francorchamps. Vollgas oder nicht? „Das ist immer die knifflige Frage, bis du es zum ersten Mal gewagt hast“, lacht Vanthoor, der auf seiner Heimstrecke, der sogenannten „Ardennen-Achterbahn“ in Belgien, bereits zahlreiche Erfolge gefeiert hat.

Am 24./25. Oktober stehen die Fahrer im Rahmen der 24 Stunden von Spa-Francorchamps in jeder einzelnen Runde vor der Herausforderung Eau Rouge. Die Kurvenkombination, offiziell „Raidillon“ genannt, hat ihren landläufigen Namen von einem nahegelegenen kleinen Bach. Das stark eisenhaltige Wasser ist rot gefärbt – „Eau Rouge“. Im Qualifying mit frischen Reifen und nur wenig Benzin im Tank wird die legendäre Passage auf der Jagd nach der besten Rundenzeit bei trockenen Bedingungen von vielen Piloten mit Vollgas durchfahren. Im Rennen ist die Situation anders. Die Reifen müssen viele Runden lang halten und behutsam behandelt werden, das Auto muss innerhalb von 24 Stunden eine Distanz von mehr als 2.500 Kilometern im Renntempo durchhalten. Das Gesamtgewicht des Wagens, über 1.200 Kilogramm plus Fahrer und Treibstoff, ist deutlich höher als im Qualifying. Entsprechend wirken höhere Kräfte.

„Mir ist auf keiner Strecke eine vergleichbare Passage bekannt. Eau Rouge ist weltweit einzigartig“, erklärt Sebastian Golz, Projektleiter Porsche 911 GT3 R. Auf der legendären Strecke in den belgischen Ardennen ist eine enorme Kompression mit Kurvenfahrten kombiniert. „Auf der Nordschleife schlagen die Autos am tiefsten Punkt der Fuchsröhre ähnlich stark durch, aber dort haben wir diese vertikalen Kräfte nicht“, sagt Golz. Nach dem Bergabstück mit bis zu 15 Prozent Gefälle geht es durch eine Linkskurve an den tiefsten Punkt, anschließend durch einen schnellen Rechtsbogen in die Steigung. Im abschließenden Linksknick der Kurvenkombination geht es mit bis zu 18 Prozent wieder nach oben. Die Sicht ist äußerst eingeschränkt, für einen kurzen Zeitraum sind nur Himmel und vereinzelte Baumwipfel zu sehen. „Das ist optisch ein wirklich spannender Eindruck, wenn man diese Passage erstmals fährt. Aber du gewöhnst dich daran“, sagt Vanthoor.

„Nicht nur die Fahrer, auch viele Komponenten stehen dort bei rund 240 km/h unter maximalem Stress“, schildert Golz. „Die Kompression staucht den Reifen extrem, gleichzeitig gibt es durch die Fliehkräfte in den Kurven eine seitliche Verformung der Flanken. Es wirken dort lateral bis zu 3,0 g. Das bedeutet für den GT3 R, dass rund fünf Tonnen nach außen drücken. In der Kompression schlägt das Fahrzeug kurzzeitig mit bis zu 2,5 g nach unten. Die Reifen können diese Kräfte nicht allein aufnehmen oder kompensieren. Die Felgen verformen sich und auch das Chassis ächzt unter der Last. Zum Glück ist unser Porsche 911 GT3 R steifer gebaut als einige andere GT3-Fahrzeuge. Es gab schon Autos, bei denen beim Aufschlagen in der Senke das Chassis gebrochen ist.“ Das Konzept des erfolgreichen Porsche 911 GT3 R beinhaltet, dass die anfallenden Kräfte innerhalb des Chassis verteilt werden und nicht punktuell für Überlastung sorgen. Alle Komponenten leisten ihren Anteil am Abbau der ins Fahrzeug einfließenden Energie. Das Setup der Kinematik spielt bei der Fahrt durch Eau Rouge eine äußerst wichtige Rolle.

„Für schnelle Richtungswechsel sollte das Auto möglichst hart abgestimmt sein, aber das würde in Eau Rouge niemals funktionieren“, erklärt der Projektleiter von Porsche. „In der massiven Kompression sorgen die hohen Kräfte für eine große Lastverschiebung. Bei einer harten Abstimmung wäre beim Lenken möglicherweise ein Rad in der Luft. Das darf dort nie passieren. Ich muss alle Räder auf dem Boden halten, um möglichst viel Grip nutzen zu können.“ Es ist ein Kompromiss gefragt. Eine zu weiche Abstimmung würde das Auto in der Senke von Eau Rouge zu heftig aufschlagen lassen. „Dabei geht es nicht darum, dass die Dämpfer ihr Limit erreichen – das ließe sich verhindern. Schlimmer in einem solchen Fall wäre, wenn das Chassis voll aufsetzt. Dadurch werden die Radlasten minimiert, womit ein erheblicher Gripverlust einher-ginge. Wir müssen das Mittelmaß finden, sodass immer maximaler Kontakt aller Räder zum Boden gewährleistet ist“, sagt Golz. Bei der Erarbeitung des optimalen Setups spielen die Besonderheiten in Eau Rouge eine große Bedeutung. Aber auch der Rest des insgesamt 7,004 Kilometer langen Kurses darf nicht vernachlässigt werden.

In schnellen Kurven wie Pouhon oder Blanchimont ist ein Fahrzeug mit möglichst geringer Bodenfreiheit gefragt, um den Abtrieb auf maximalem und konstantem Niveau zu halten. Für Passagen mit schnellen Richtungswechseln wie in Les Combes oder der Bus-Stop-Schikane ist eine harte Federung für hohe Agilität der Schlüssel zu guten Zeiten. All dies widerspricht den Setup-Wünschen, die für eine perfekte Fahrt durch die Eau Rouge auf der Liste stehen. „Es geht immer um den besten Kompromiss“, sagt der erfahrene Porsche-Ingenieur. „Ich nehme in Kauf, dass das Auto in Eau Rouge etwas aufsetzt, weil ich an anderen Stellen der Strecke mein Fahrzeug möglichst tief haben möchte. Nie vergessen: Die Rundenzeit wird nicht allein in Eau Rouge gemacht, sondern über die gesamten sieben Kilometer. Wenn ich für die knifflige Passage in der Senke zu viel optimiere, verliere ich an anderen Stellen wie der Blanchimont zu viel Zeit“, meint Golz. Lachend fügt er an: „Es ist und bleibt eine großartige Herausforderung. Wer als Fahrer dort voll auf dem Gas bleibt, der hat Mut. Im Gegensatz zum Formelsport hat sich dies im GT3-Bereich über die Jahre überhaupt nicht verändert.“

Neben dem fahrerischen Talent sind an der Schlüsselstelle enormes Selbstbewusstsein, viel Erfahrung und eine große Portion Mut gefragt. „Es mag vielleicht seltsam klingen, aber Tatsache ist, dass Eau Rouge meistens mit Vollgas einfacher zu meistern ist als mit einem kurzen Lupfen“, überrascht Vanthoor mit seiner Einschätzung. „An dieser Stelle muss sich der Fahrer auf ein absolut berechenbares Fahrzeug verlassen können. Sobald ich vor der Senke etwas vom Gas gehe, gibt es im Fahrzeug eine Lastverschiebung nach vorn – den sogenannten Pitch. Dies sorgt für ein giftigeres Lenkverhalten und kann in dieser Passage dazu führen, dass das Auto zu stark auf einen Randstein trifft. Wenn das passiert, wird es wirklich knifflig. Ein Pilot muss Eau Rouge im wahrsten Sinne erfahren haben. Jeder weiß, dass die Aerodynamik mit höherem Tempo auch höheren Abtrieb bietet. Das ist natürlich endlich, aber es reicht beim Porsche 911 GT3 R, um voll auf dem Gas bleiben zu können – meistens jedenfalls. Klappt nicht immer, denn manchmal sagt das Gefühl, dass ein kurzes Lupfen vielleicht doch angebracht wäre.“

„Wir Techniker sehen diesen Wettbewerb der Piloten um Vollgas in Eau Rouge einerseits gern, weil wir alle leidenschaftliche Motorsportfans sind“, schildert Golz seine Perspektive. „Auf der anderen Seite ist klar, dass Reifen und Fahrzeug diese besonderen Belastungen niemals dauerhaft aushalten würden. Da sind wir ganz dankbar, dass die Anstrengung und Anspannung der Fahrer an dieser Stelle so hoch sind, dass auch der Mensch am Steuer es im Rennen eher selten mit Vollgas schafft. Das schont das Material wenigstens ein bisschen“, meint der Projektleiter 911 GT3 R und nimmt den Piloten damit auch die Last, womöglich an zu hohen Ansprüchen zu scheitern. In der schwierigen Passage hat es schon unzählige Unfälle gegeben. Nur wenn alle Faktoren zusammenspielen, geht Eau Rouge wirklich voll. Die Reifen müssen perfekte Temperatur und Druck haben, die Strecke darf nicht nass oder verschmutzt sein, die Anfahrt auf die Senke muss optimal gelingen.

„Eigentlich ist es so, dass das erste Einlenken in Richtung Senke alles bestimmt“, meint Vanthoor. „Wenn es da nicht passt, musst du korrigieren. Das ist bei Tempo 240 und den hohen anliegenden Kräften alles andere als einfach. Die Eau Rouge verzeiht keine Fehler. Die Auslaufzonen sind nicht groß, viele Fahrer haben schon Bekanntschaft mit den harten Leitplanken gemacht. Dennoch gibt es für uns Piloten kaum ein besseres Gefühl, als diese Streckenpassage mit Vollgas zu nehmen. Darauf freut man sich in jeder Runde. Natürlich nur solange nichts schief geht“, schmunzelt der Belgier. Die berühmte Kurvenkombination von Spa-Francorchamps ist wie eine Trophäe, die es im maximal schnellen Vorbeifahren zu gewinnen gibt. Ein ehemaliger Formel-1-Weltmeister ließ sich sogar einmal den Text „I survived Eau Rouge“ („Ich habe Eau Rouge überlebt“) auf seine Autogrammkarten drucken. Und das, nachdem zuvor zwei Versuche, die Passage mit Vollgas zu nehmen, mit viel Kleinholz jäh in den Barrieren geendet hatten.

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